Wie wird meine Sehstärke gemessen?
Die Prüfung der Sehstärke ist wie jede andere Untersuchung, bei der subjektiven Angaben vom Patienten erhoben werden, ein psychophysischer Messvorgang. Anders als physikalische Systeme, die exakt und reproduzierbar durch Messprozeduren beschreibbar sind, besteht im Bereich der Psychophysik das Problem, dass der Patient ein relativ ungenaues Detektorsystem darstellt, der mit einer großen Unsicherheit und Schwankungsbreite seines Antwortverhaltens behaftet ist. Dies führt zu einer erheblichen Ungenauigkeit der Messwerte, was durch geeignete statistische Verfahren soweit als möglich kompensiert werden muss.
Wie gut ist Ihre Sehstärke?
Wesentlich für das Verständnis jeder psychophysischen Messung ist der Begriff der psychometrischen Funktion. Hierbei wird die Antwortwahrscheinlichkeit für eine „Ja-Antwort“, also einer Antwort, bei der der Stimulus gesehen wurde, in Abhängigkeit von der Reizstärke in beliebigen relativen Einheiten, beispielsweise das kritische Detail bei der Sehstärkenprüfung oder die Leuchtdichte des Stimulus bei der Perimetire etc., aufgetragen.
Die normgerechte Sehstärke prüfen
Für die gutachterliche Sehstärke-Prüfung für eine Brille oder Kontaktlinsen, wie wir sie für Führerscheinprüfung oder die Renten- und Versicherungsbegutachtung verwenden müssen, sind die ISO-Normen 8596/8597 und Teil 3 der DIN-Norm 58 220 ausschlaggebend. Das Normsehzeichen ist der Landolt-Ring in logarithmischer Abstufung. Es können auch Sehzeichen verwendet werden, die gemäß der Anschlussvorschrift an das Normsehzeichen angeschlossen sind. DIN 58 220 regelt genau die Darbietungsbedingungen des Normsehzeichens, den Abstand der Optotypen untereinander, die Zahl der erforderlichen Sehzeichen, die möglichen Orientierungen und die Häufigkeit der Orientierungen (vier gerade, vier schräge Stellungen), das Abbruchkriterium, den Kontrast und die Umfeldleuchtdichte. Einzelheiten sind entweder DIN 58 220 oder der Literatur zu entnehmen (Lachenmayr 1993).
Wichtig für den praktisch tätigen Augenarzt ist es, dass bei der gutachterlichen Sehstärkenprüfung exakt und ohne Abstriche die Darbietungsbedingungen und Verfahrensweisen von DIN 58 220 eingehalten werden. Dies bedeutet konkret, dass bei Visuswerten bis einschließlich 0.63 5 Optotypen gleicher Größe darzubieten sind, bei Sehstärkenwerten über 0.63 10 Optotypen. Somit sind alle älteren Sehzeichenprojektoren, die diese Anforderung nicht erfüllen, für die gutachterliche Prüfung der Sehstärke nicht zulässig!
Die Abstufung des Normsehzeichens erfolgt gemäß DIN 58 220 nach einer geometrischen Reihe mit Stufungsfaktor 10√10 = 1.2589, wobei als Ausnahme von der logarithmischen Abstufung ist es, eine physiologisch äquidistante Teilung der Sehstärke Skala zu erzielen: nur bei logarithmischer Abstufung ist eine Änderung um ein oder zwei Visusstufen in allen Bereichen der Skala physiologisch gleich wirksam. Bei einer linearen Skalierung ist der Abstand der Werte bei geringen Sehstärkenanforderungen zu groß, bei hohen Sehschärfenwerten zu gering. Viele – allerdings nicht alle – modernen Sehzeichenprojektoren enthalten eine Abstufung der Sehschärfe in dieser Skalierung. Jeder, der sich einen solchen Projektor anschafft, sollte sich beim Hersteller vergewissern, dass damit eine gutachterliche Sehschärfeprüfung gemäß DIN 58 220 durchgeführt werden kann.
Noch ein Hinweis für die Praxis: Während wir gemäß DIN 58 220 eine relativ helle Beleuchtung benötigen (Umfeldleuchtdichte 160-320 cd/qm), empfiehlt es sich, für die Refraktionsbestimmung den Untersuchungsraum mäßig abzudunkeln. Als Anhaltswert gilt eine Raumbeleuchtung bei der man Visus 1.0 gerade noch Zeitung lesen kann. Dadurch wird die Pupille des Prüflings etwas weiter, so dass der stenopäische Effekt einer engen Pupille, wie er bei höherer Adaptionsleuchtdichte auftritt, nicht zum Tragen kommt. Die Ergebnisse der Refraktionsbestimmung werden damit genauer.
Abbildung oben: Sphärische Aberration. Achsferne Strahlen (hier 1) werden auf einen anderen Brennpunkt vereinigt als achsnahe Strahlen (hier 2)
Die Sehstärke des menschlichen Auges wird durch drei Komponenten limitiert:
- die optische Abbildung des Auges,
- die Lichtstreuung in der Retina,
- die neutral Verarbeitung in der Retina.
Die optische Abbildung des Auges wird wesentlich durch zwei Einflussgrößen bestimmt, zum einen die Beugung, zum anderen die Abbildungsfehler der optischen Komponenten des Auges (Hornhaut, Vorderkammer, Linse, Glaskörper). Unter Beugung verstehen wir in der Physik das Phänomen, dass sich wellenförmig ausbreitende Energie bei Einbringen eines Hindernisses in die Wellenfront auch in Raumbereich ausbreiten kann, die der direkten Wellenausbreitung nicht zugänglich sind. In einem optischen Strahlengang wird die Auswirkung der Beugung um so stärker, je kleiner die limitierende Öffnung ist. Am menschlichen Auge entsteht Beugung im Normalfall an der Pupille: bei extremer Miosis, etwas bei Pupillenweiten von weniger als 1,5mm, wie sie bei Patienten unter Miotikatherapie auftreten können, kann es durch die Beugung zu einer Herabsetzung der Sehstärke (Sehschärfe) kommen.
Bildqualität und Sehstärke
Beugung begrenzt also bei sehr kleinen Pupillenweiten die Bildqualität und damit die Sehstärke. Wie jedes optische System besitzen auch die Komponenten des menschlichen Auges eine Vielzahl von Abbildungsfehlern, die die Güte des Netzhautbildes beeinträchtigen. Der wichtigste Fehler ist die sphärische Aberration: mit der sphärischen Aberration bezeichnen wir das Phänomen, dass bei einer abbildenden Linse, beispielsweise bei der dargestelltn Sammellinse, Strahlen, die in unterschiedlichem Abstand von der optischen Achse auf das abbildende System treffen, unterschiedlich stark gebrochen und zu unterschiedlichen Brennpunkten vereinigt werden. So wird im gezeichneten Fall das achsnahe Strahlenbündel 2 auf einen etwas weiter rechts gelegenen Brennpunkt 2 fokussiert, das achsferne Strahlenbündel 1 wird auf den näher bei der Linse gelegenen Brennpunkt 1 abgebildet. Folge ist, dass unterschiedliche Strahlen mit verschiedener Einfallshöhe auf unterschiedlichen Brennpunkte fokussiert werden und somit für alle Strahlen kein einheitlicher gemeinsamer Brennpunkt existiert.
Sehstärke (Sehschärfe) und Visus
Im klinischen Sprachgebrauch werden die Begriffe Sehstärke und Visus gleichbedeutend nebeneinander verwendet, obwohl sie unterschiedlich definiert sind. Unter Sehstärke verstehen wir die anguläre Sehschärfe, also den eingangs bereits erwähnten kleinsten Winkel, unter dem zwei Objekte gerade noch getrennt wahrgenommen werden können bzw. ein kritisches Detail gerade noch aufgelöst werden kann. Wird bei einem Landolt-Ring die Größe der Lücke in Bogenminuten angegeben, so liefert dies den Wert für die anguläre Sehstärke. Unter Visus verstehen wir demgegenüber den Kehrwert der in Bogenminuten gemessenen angulären Sehschärfe
Visus = 1 ./. p [´]
Während die Einheit der Sehstärke eine Winkelgröße ist, wird beim Visus keine Dimension verwendet. Trotz dieser prinzipiell unterschiedlichen Definitionen ist es durchaus legitim, gemäßt dem allgemeinen Sprachgebrauch Sehstärke und Visus synonym zu gebrauchen.
Üblicherweise wird die Sehstärke für die Ferne für eine Distanz von 5 oder 6 mtr. ermittelt. Wenn die Sehstärke schlecht ist und auf diese Distanz mit den verfügbaren Sehzeichen kein Wert mehr erzielbar ist, muss der Prüfabstand verringert werden, typischerweise auf 2 mtr., 50 cm oder nocht weniger. Hierzu erden dann in der Hand gehaltene Papptafeln verwendet, auf denen Optotypen abgestufter Größe dargeboten werden. Der Visus, der dann erzielt wird, lässt sich nach folgender Formel berechnen:
Visus = Ist-Entfernung [m] ./. Soll-Entferung [m]
Die Ist-Entfernung ist dabei die tatsächliche Prüfentfernung, in der die Sehprobentafel dem Patienten dargeboten wird. Die Soll-Entfernung ist der Distanzwert, der in Kleindruck auf der Prüftafel angibt, in welcher Entfernung ein Betrachter mit normaler Sehstärke (1.0) die jeweilige Reihe gerade noch erkennen kann. Findet sich beispielsweise auf der Sehprobentafel die Angabe „25 mtr.“ und wird die Prüfung der Sehstärke in einem Abstand von 1 mtr. druchgeführt, so ist der resultierende Visus 1/25.